Henri Cartier-Bresson (1908-2004) war für die Fotografie des 20. Jht.s sowas wie Picasso für die Bildende Kunst. Ich kannte von ihm bisher vor allem seine Straßenbilder wie jenes von dem stolz zwei Weinflaschen tragenden Buben in der Pariser Rue Mouffetard aus dem Jahr 1954, die seine Virtuosität bei der Kunst des Zum-rechten-Zeitpunkt-Auslösens zeigen. Die aktuelle Wiener Ausstellung zeigt Schwarzweißaufnahmen, die Cartier-Bressons dokumentarische Präsenz bei historischen Ereignissen und Schauplätzen aufzeigen: Gandhi einen Tag vor seiner Ermordung, Fotoserien im davor dem Westen unbekannten China zur Revolutionszeit und im Moskau der Chruschtschow-Ära, Kuba mit Che Guevara und Fidel Castro, Mauerbau in Berlin oder Resistance in Frankreich zur Weltkriegszeit. „Watch, watch, watch!“ lautet der Titel der Schau; beeindruckend, was sich in einem 95-jährigen Leben so alles ansammelt.
Den Fotos Cartier-Bressons merkte man schon an, dass die Auflösung inzwischen um Längen besser ist.
Die zweite Ausstellung ist der heuer im März verstorbenen Christine de Grancy gewidmet. Es dominieren ihre Bilder von Wiener Dächern – etwa jenem des Parlaments, des Burgtheaters oder der beiden Museen am Ring. Es macht Staunen, was sich dort oben an Skulpturen, Herrschaftssymbolen und Göttergestalten so umtut. Christines Freund André Heller würdigt sie mit dem schönen Satz in typischem Hellerdeutsch: Ihre Lichtbilder, die „aus dem Fegefeuer der Banalität“ herausführen, seien „betroffen machende Glücksfälle aus dem geheimnisvollen Revier der unsentimentalen Kunst“.
Die Dachlandschaften de Grancys sind eine Einladung, in Wien den Blick nach oben zu lenken
Beide Ausstellungen machen Lust, wieder mal in Schwarzweiß zu fotografieren. Die Licht-Schatten-Effekte haben einen besonderen Reiz.
Manche Bücher lesen sich schnell – entweder weil sie an viele eigene Erfahrungen anknüpfen oder einfach gute Literatur sind. Tonio Schachingers „Echtzeitalter“ bietet beides. Es geht um Till Kokorda und seine Schülerjahre im – dem Therasianum nachempfundenen – Elitegymnasium Marianum. Dort gerät er unter die strenge Fuchtel des Deutsch und Französisch unterrichtenden Klassenvorstand Dolinar, verliert den Vater durch dessen Krebstod, verfällt sukzessive dem Echtzeitstrategie-Computerspiel (AOE/Age of Empire 2), schließt in der Oberstufe Freundschaft mit Fina – und Feli, in die er sich erst heimlich, dann deklariert und erfolgreich verliebt, während er erwachsen wird. Eine Coming-of-Age-Geschichte also, in einem Ambiente, das mit Bildungsdünkel und teils schwarzer Pädagogik auf eines von drei Studien vorbereitet – Jus, Wirtschaft oder Medizin. Und das vor dem Hintergrund von bekannt Wienerischem wie Karlsplatz, Café Alt Wien oder Ellmayer sowie von zeitnahen Ereignissen wie dem Ibiza-Skandal, der Kanzlerschaft von Kurz oder der Pandemie, die Till die Hürde Matura schließlich leicht nehmen lässt. Schachinger, geboren in Neu-Delhi als Spross eines österreichischen Diplomaten und einer Künstlerin mexikanisch-ecuadorianischer Herkunft, verarbeitet in seinem 2023 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman viel Biografisches. Und er macht das geistreich, humorvoll, unterhaltsam, mit einer ihm schon für seinen Debütroman von der Buchpreis-Jury attestierten „rotzigen, witzigen und originellen“ Erzählerstimme. Gut, Internet-Gaming interessiert mich nicht wirklich, auch meine Tetris- und Gran-Turismo-Phase liegen lang zurück, aber Schachinger macht die Faszination eines Identität suchenden und zum autogrammbegehrten Nerd-Star werdenden Teenagers dafür plausibel. Der „Standard“ lobte den Autor für ein Buch, „das Pointen schleudern und zugleich seine Figuren psychologisch schlüssig reifen lassen kann“. Gut gesagt.
Die Wetterprognose war schauerlich: Viel Regen sei in diesem feuchten Sommer mit bisher eher kurzen Hitzeperioden zu rechnen. Ich hatte aber schon länger die Zuganreise nach Mürzzuschlag und die Rückreise von St. Pölten geplant und auch das Nachtquartier in Mariazell schon reserviert. Ob am zweiten Tag dann auch Freund Heinrich und andere Mitglieder der WhatsApp-Gruppe „geRADeaus“ den Traisenradweg entlang dabei sind, würde sich zeigen.
Empfehlenswerte Tour – Start- und Endpunkt von Wien aus gut erreichbar
Feucht wurde es bereits kurz nach dem Losfahren in Wien, also nahm ich die U-Bahn zum Hauptbahnhof. Der Mürztalradweg ab Mürzzuschlag war nass wie nach heftigem Regen, der Himmel noch düster, aber die Strecke bis Mürzsteg gut ausgebaut, sehr angenehm. Münsterbesuch und Kaffeestop in Neuberg, 550 Höhenmeter ging’s dann rauf zum Niederalpl und zu einem jener Skigebiete auf 1220m, die dem Klimawandel zum Opfer fallen (werden). Mit bis zu 70 Sachen dann runter nach Wegscheid, danach nordwärts Richtung Marienwallfahrtsort, bei angenehmen Temperaturen knapp über 20 Grad. Vorbei am JUFA Sigmundsberg, wo Claudia und die drei Enkelsöhne bereits einmal urlaubten, dann die letzte Steigung rauf nach Mariazell bei immer mehr aufklarendem Himmel. Ich bezog mein Zimmer in der Magnus Klause und brach bald nochmals auf, zum Erlaufsee und dem naheliegenden JUFA, wo wir in drei Wochen in größerer Besetzung sein werden. Und ich war ziemlich angetan von diesem Familienhotel: sehr verkehrsberuhigt im Grünen, viele Sportmöglichkeiten indoor und outdoor, ein ruhiger Innenhof mit Wiese und Kinderspielplatz, Fitnessraum, Bouldern, Kickfelder, freundliches Personal. Der Erlaufsee ist halt leider nicht in unmittelbarer Nähe. Zu Fuß eine halbe Stunde (wobei ich einen Fußweg im Wald entdeckte), mit dem Rad ca. 10 min, per Auto die Hälfte. Dort dann strahlender Sonnenschein und doch recht viele Badende im kristallklaren Wasser.
Am Beginn des MürztalradwegsBergstation NiederalplBasilika im Sonnenschein
Abends dann fein Speisen im noblem Brauhaus Mariazell: Mir wurde allein ein Vierertisch zugewiesen, auf Nachfrage erklärte ich mich einverstanden, etwaige Tischnachbarn zu bekommen – und bald gesellte sich Leonard, ein nach Songwriter Cohen benannter Vorarlberger Fußwallfahrer, zu mir. Wir kamen ins Gespräch, und es zeigte sich, dass dabei die Leut‘ z’sammkommen: Leonard, ein studierter Wirtschafter und Berufsschul-Quereinsteiger, wird im nächsten Schuljahr „RuR“ unterrichten, also Schüler:innen unterschiedlichen religiösen Bekenntnisses eine Art Religionskunde. Darauf haben sich verschiedene christliche Konfessionen und die Aleviten in Vorarlberg und auch in Tirol geeinigt. Was für eine passende Ergänzung zu meinen Recherchen über interreligiösen Religionsunterricht, an dem ich gerade dran bin! Am nächsten Morgen ein banger Blick aus dem Hotelzimmer. Der Himmel schwarzbewölkt, ein Anruf bei Heinrich in der Mariazellerbahn ergab aber: Vier unerschrockene Radler – zwei weniger als geplant – würden ab 11h die Traisen entlang radeln. Bis zum Treffpunkt am Bahnhof besuchte ich noch die Basilika, wo gerade einer der vielen Pilgergottesdienste gefeiert wurde. Dann begrüßte ich am Bahnhof meinen alten Freund Heinrich sowie die Jungpensionisten Paul und Thomas, letzterer sogar als einziger ohne E-Bike unterwegs. Was sich trotz des langen Anstiegs nach Gscheid nicht in langen Wartezeiten bemerkbar machte – der Mann ist superfit. Und die Strecke erst im Rechengraben, dann am Hubertussee und an der Wuchtlwirtin vorbei und ab St. Ägyd die Traisen entlang herrlich. Durch die vielen, teilweise steilen Bergabpassagen machten wir Tempo: 23,5 km/h Schnitt sollte das Display schließlich in St. Pölten anzeigen – so flott war ich bei einer 90km-Tour noch nie unterwegs. Daran änderte auch eine unliebsame Premiere (erster Bienenstich während des Radfahrens) nichts. Mit dem Wetter hatten wir Glück: Es gab zwar einen heftigen Regenguss, aber zu einem Zeitpunkt, als wir in Lilienfeld zu Mittag aßen und bei Kaffee zuwarteten, bis es wieder aufklarte. Negativ überrascht war ich nur von meiner angeblich regendichten „Mi Velo“-Radtasche. Durch die beiden Reißverschlüsse vorne beim kleinen Fach und hinten für die Tragegurte dran ganz schön viel Wasser ein.
Am höchetn Punkt des Traisenradwegs: Heinrich, ich, Thomas, Fotograf Paul fehlt
Gegen 17.30 Uhr waren wir in St. Pölten, Thomas und Paul verabschiedeten sich, ich blieb noch bis zur Railjet-Abfahrt um 19.03 bei Heinrich. Nass wurde meine Regenjacke erst, als ich beim Donauzentrum aus der U1 stieg…
„Ich wurde am 26. September 1959 in Bruck an der Mur geboren.“ So beginnt der Lebenslauf, den ich bei verschiedenen Gelegenheiten vorzulegen hatte. „Geboren“ wurde ich im LKH Bruck, das nach seiner Gründung 1887 „Rudolf Spital“ hieß. Ich sei zwei Wochen nach dem errechneten Termin auf die Welt gekommen, berichtet meine Mutter. Schwangerschaft und Geburt seien aber – im Unterschied zu ihren weiteren – problemlos verlaufen. „Am 26. September“ bedeutet, dass ich bei einer neunmonatigen Schwangerschaft rund um die Weihnachtstage 1958 gezeugt wurde. Von einem frühreifen, auf einem Ballfoto mit meiner Mutter jedoch recht unbedarft aussehenden 17-jährigen Rudolf aus dem Nest Göriach bei Turnau und der dreieinhalb Jahre älteren Handelsangestellten Franziska. Beide beschäftigt im GÖC-Kaufhaus (für: „Grosseinkaufsgesellschaft österreichischer Consumvereine“) am Brucker Hauptplatz, eigentlich Koloman-Wallisch-Platz, der übrigens in meinem Geburtsjahr asphaltiert wurde und mit 13.000 m² (knapp nach Linz) der zweitgrößte Innenstadtplatz in Österreich ist. „1959“ war ein Jahr kurz vor dem Höhepunkt der Babyboomer-Jahre 1960-1965, als eine Frau in Österreich durchschnittlich 2,78 Kinder gebar (2024: 1,31 Kinder). Heute, da ich das schreibe, verzeichnet Statistik Austria 77.238 Lebendgeborene bei rund 9 Mio. EinwohnerInnen in Österreich (2024), 1959 waren es bei knapp 7 Mio. 124.377 Babys. Geradezu dramatisch schaut es hier in der Steiermark aus: Bei ähnlicher Gesamtbevölkerung von etwa 1,2 Mio. Menschen kommen heute mehr als zehnmal weniger Kinder zur Welt als in den frühen 1960ern. Das ist Ausdruck des demografischen Wandels – weniger Kinder, spätere Geburten, ältere Bevölkerung, dafür mehr Migration. Eingeschult wurde ich nach einem Kindergartenjahr (an das mir jede Erinnerung fehlt) knapp vor meinem 7. Geburtstag – zusammen mit 30 anderen Buben in meiner Klasse. Über meinen Geburtszeitpunkt scherzte ich später manchmal, ich wollte die Roaring Sixties in voller Lände miterleben. „In Bruck an der Mur“: Mein Herkunftsort in der Obersteiermark war durch seine Lage am Zusammenfluss von Mur und Mürz eine wichtige Handelsstadt – und das schon in der späten Bronzezeit um 800 v. Chr., dann wieder im Noricum der Römerzeit und zur Blütezeit im Mittelalter, als Bruck (von „Prukke“, Brücke, erste urkundliche Erwähnung 860) zur wichtigsten Handelsstadt der Obersteiermark wurde und bereits 1263 als eine der ältesten Städte in Österreich aufschien. In den zehn Jahren, als ich mit meiner alleinerziehenden Mutter in der zentralen Mittergasse wohnte, bekam ich nur am Rande mit, dass die Bezirkshauptstadt Bruck als wichtiger Bahnknotenpunkt viele Eisenbahner (darunter meinen Onkel Fredi und früher schon Opa Hans Eibl) beschäftigte und die seit 1901 in der Obersteiermark präsente Drahtzieherei „Felten & Guilleaume“ ein weiterer wichtiger Arbeitgeber mit Standorten in Bruck und Diemlach war. Bruck hatte Anfang der 1960er-Jahre ca.17.500 Einwohner:innen, zehn Jahre später mit 18.300 den Höchststand. Aktuell sind es nur mehr 15.750 Menschen. Das reicht aber weiterhin zu Platz 4 unter den größten steirischen Städten (nach Graz, Leoben und Kapfenberg, vor Leibnitz und Feldbach). Kapfenberg, wohin ich nach der Heirat meiner Mutter übersiedelte, bildet mit Bruck die größte Doppelstadt Österreichs, seit über 70 Jahren von (O-)Bussen der MVG verbunden. Pläne zu einer Fusion vor rund zehn Jahren scheiterten aber (an der Rivalität der beiden Gemeinden?).
„Zum 100. Geburtstag der tollen deutschen Schauspielerin und Sängerin (1925–2002) kommt nun ein nicht ganz so tolles Porträt in die Kinos.“ „Falter“-Filmkritiker Michael Omasta, mit dem ich öfter mal nicht einer Meinung bin, hat hier recht. Die Knef, erst Trümmerfrau, dann Schauspielerin und Chansonnette, zuletzt Bestsellerautorin und nicht erst als Krebskranke so was wie öffentliches Gut im „Bild“-Zeitungsdeutschland, war eine beeindruckende Frau. Die von ihr selbst getexteten Chansons („Schlager“ klänge zu oberflächlich) kenne und schätze ich schon lange: „Für mich soll’s rote Rosen regnen“, „Von nun an ging’s bergab“ oder „Ich glaub‘, ’ne Dame werd‘ ich nie“ seien durchaus auch als „unverschämt autobiografisch“ zu verstehen, sagt sie in der Doku von Luzia Schmid. Und genau das beanstandet Herr Omasta: „Filmclips und Liedtexte werden auf ‚Biografisches‘ abgeklopft – nichts sonst interessiert noch oder wird einmal erwähnt. So etwa ihre erstaunlich vielfältige Leinwandkarriere, die sie in den 1960ern auch in Großbritannien, Frankreich, Italien fortsetzte.“ Mir missfiel, dass Knefs erste Ehe mit einem jüdischen US-Army-Angehörigen, die sie für 50 Jahre zur US-Bürgerin machte (was der Film verschweigt) nur am Rande erwähnt wird. Oder dass der Vater an Syphilis starb. Dass ihr Halbbruder, der Jazzmusiker Heinz Wulfestieg, 1978 jung unter ungeklärten Umständen verstarb. Dass sie die Dietrich und die Monroe gut kannte… Dafür kommt über Gebühr die Tochter Christina Antonia als Alleininterpretin der berühmten Mutter zu Wort. Egal. Fesselnd in der Doku sind die sprachgewandt formulierten Interviewpassagen der Knef – und natürlich ihre Lieder. Ella Fitzgerald bezeichnete Hildegard Knef nicht umsonst als die „beste Sängerin ohne Stimme“.
1.) Literaturnobelpreisträger aus Norwegen, 2.) meine Frau fand dieses Büchlein auf ihrer leseintensiven Reha „meditativ“ und interessant – zwei gute Gründe, um „Ein Leuchten“ von meinem Jahrgangskollegen (1959) Jon Fosse zur Hand zu nehmen. Der Inhalt des 70-Seiten-Bändchens ist schnell erzählt: Ein namenloser Mann setzt sich ins Auto und beginnt draufloszufahren, ohne konkretes Ziel biegt er mal rechts, mal links ab. Landet schließlich am Ende eines Waldweges, kann nicht mehr wenden. Es wird Nacht, es beginnt zu schneien, doch anstatt Hilfe zu holen, steigt der Mann aus und dringt immer tiefer vor in die Dunkelheit, bis er sich verirrt. Müde und frierend begegnen ihm der Reihe nach ein leuchtendes Wesen, seine Eltern und ein barfuß gehender Mann in Schwarz – allesamt nicht wirklich (be)greifbar. Hat hier einer, der die Zivilisation in Richtung Natur verlässt, Visionen voll Symbolik und Mystik? Eine Nahtod-Erfahrung? Wer es fossen kann, der fosse es. „Nur das Mysterium des Glaubens zählt, und dass du versuchst, Teil davon zu sein“, zitierte ein von mir 2024 bearbeiteter Kathpress-Artikel den Norweger mit Zweitwohnsitz Hainburg. Und die KNA-Kollegen zitierten Fosse mit: „… für mich ist das Schreiben die ehrlichste Art, ein Gebet zum Ausdruck zu bringen“. Für SZ-Rezensentin Sigrid Löffler bleibt Fosse allzu sehr im Ungefähren, stilistisch „im Zeichen des Irgendwie“. Löfflers erster Verdacht, der Autor „verulke“ mit seinem Buch einen Nahtod-Bericht der Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross, bestätige sich nicht. Denn: „Fosse hat keinen Humor.“ Nun, ich fand den ohne jeden Absatz heruntergeschriebenen, mit stilistischen Eigenheiten und mit Wiederholungen gespickten Text nicht unspannend – auch wenn das Ende etwas abrupt wirkt und nichts „auflöst“. Dieses Ende kommt ja recht bald. Wie gesagt: 70 Seiten, für die der Verlag im Hartcover 22 Euro verlangt.
Für die Katholische Aktion Österreich leistete ich unter Präsident Christian Friesl Öffentlichkeitsarbeit und ich erteilte ihr nicht ohne längeres Zögern eine Absage, als mich der aktuelle Präsident Ferdinand Kaineder anlässlich meiner Pensionierung um Mitwirkung anfragte. Gelegentliche Impulse gerne, kontinuierliche inhaltliche Zuarbeit aber nicht, so meine Antwort. Nun schuf die katholische Laienorganisation mit dem KA-Salon zu verschiedenen Themen eine neue Dialogreihe, am 15.7. ging’s um Medien. Das ist was für mich, dachte ich, und bekam sogar von meiner alten Arbeitgeberin Kathpress den Auftrag zum Berichten. Was ich dann auch brav tat.
Nach dem Podium Frage an Altmeister Rauscher: Warum gibt’s eigentlich kein europäisches Pendant zu Google, Microsoft und Co.?
Und ich habe auch Anregungen an die KAÖ, was deren Positionierung im demokratiepolitisch so wichtigen, jedoch hierzulande seit langem unbefriedigend gestalteten Bereich Medienpolitik betrifft: Presseförderung aufstocken und Qualität statt Quantität fördern; „Anfüttern“ durch Regierungsinserate drastisch reduzieren; den öffentlichen Rundfunk dem Parteizugriff entziehen; (in der EU) Regulative der Social-Media-Konzerne vorantreiben und Hasspostings bzw. Fake News einhegen.
Es gibt Bücher, da findet man – da finde ich – nicht rein. Das bedeutet zwar allabendliche Lektüre vorm Einschlafen, aber auch: nach ein paar Seiten müde werden und am nächsten Tag nicht mehr genau wissen, wer wie was. „Jahr der Wunder“ von der US-Amerikanerin mit deutschen und indigenen Wurzeln, Louise Erdrich, war so ein Buch. Dabei ist sie Pullitzer-Preisträgerin (für „The Night Watchman“/“Der Nachtwächter“ 2021) und las wie ich die Indianerbücher Karl Mays, die ihr der Vater Ralph Erdrich, tätig in einem Büro für Indianerfragen, empfahl. Um die in den USA ähnlich wie Afroamerikaner benachteiligten Indigenen geht es auch in „The Sentence“, wie der „unterhaltsame Geisterroman“ (taz) im Original heißt – also „Satz“, aber auch „Strafe“. Letztere fasst die Hauptfigur Tookie für einen missglückten Freundschaftsdienst aus, nach zehn Jahren leseintensiver Haft wird sie Buchhändlerin in einem Laden, den es in Minneapolis wirklich gibt, gegründet von Louise Erdrich. Außer um Tookies Kolleginnen und diverse (schräge) Kund:innen geht es auch um ihren Mann Pollux, um dessen Tochter Hetta und deren Baby Jarvis. Zwei historische Ereignisse prägen außer der sich durchziehenden Liebe zu Büchern die Handlung: die Covid-Pandemie und der Polizei-Totschlag an George Floyd. Mehr aber noch eine verstorbene Kundin, die im Laden herumgeistert und Tookie das Leben schwer macht. Vor allem diese permanenten Schikanen der Untoten wurden mir beim Lesen bald zuviel, störend fand ich auch, dass vieles vom Erwähnten bezüglich indigener Kultur und Unterdrückungsgeschichte für Unbedarfte wie mich nicht einmal in Fußnoten erläutert wird.
Für Beatles-Fans wie mich ein Must: „One to One: John & Yoko“ zeichnet die bewegte Ära Anfang der 1970er-Jahre nach, als der frisch von den Fab Four getrennte Lennon und seine Frau Yoko Ono in einem bescheidenen Apartment in Greenwich Village (NY) lebten. Kevin Macdonald und Sam Rice-Edwards montieren für ihre Doku-Collage verschiedenste Bild- und auch Tonaufnahmen (die Sean Lennon Ono zur Verfügung stellte) zu einem bunten Zeitkolorit: mit Konzertausschnitten der Plastic Ono Band, Interviews des berühmten Paares im TV u.a. bei Johnny Carsons Tonight Show, mit Szenen aus der US-amerikanischen Politik und dem damals wütenden Vietnam-Krieg, Auftritten von Gegenkultur-Größen wie Alan Ginsberg, Jerry Rubin oder A. J. Weberman, Kurzszenen aus Serien wie den Waltons – oder einfach mit Werbejingles, die John Lennon damals wohl auch regelmäßig sah. Denn das Fernsehen betrachtete er als Ersatz für das Kaminfeuer vergangener Tage und nutzte es intensiv. Die Regie konzipierte den Film so, als würde man ständig durch das US-TV-Programm der damaligen Zeit zappen. Beeindruckend, wie politisch aktiv Lennon und Ono waren: Sie ergriffen das Wort und die Gitarre für einen wegen Marihuana-Besitzes zu zehn Jahren Haft verurteilten Dichter und gaben titelgebende „One to One“-Konzerte für unterversorgte, weggesperrte behinderte Kinder. „Yoko und ich versuchen, die Jugend aus ihrer Teilnahmslosigkeit zu reißen. Wir müssen ihnen den Glauben daran zurückgeben, dass wir etwas verändern können“, nahm Lennon in einem Interview Bezug auf die enttäuschend zu Ende gegangene Flower-Power-Bewegung der Hippie-Zeit. Deutlich an Kontur gewann für mich die feministische Avantgarde-Künstlerin an Johns Seite. Ich gebe zu: Auch ich mochte die jahrelang gedisste, nervend schrill singende Yoko Ono (die, wie die Doku „Get Back“ zeigt, in den Abbey Road Studios an Johns Seite klebte) wegen ihres vermeintlichen Beitrags zum Zerfall der Beatles nicht, weiß es inzwischen aber besser. Die vier – und vor allem Lennon und Paul McCartney – hatten sich einfach auseinandergelebt, und alle Bandmitglieder, vor allem George Harrison und Ringo Starr, starteten gleich nach der Trennung höchst erfolgreiche Solo-Karrieren. Wie kreativ auch John Lennon in dieser Zeit war, zeigen auch seine in der Doku plausibel mit Außeneinflüssen verwobenen Kompositionen: seine „Urschrei“-Therapie zeigt sich in „Mother“, zu hören sind die Demo-tauglichen „Give Peace a Chance“ und „Power to the People“, das visionäre „Imagine“ oder das einen Drogenentzug (der sonst in der Doku kein Thema ist) reflektierende „Cold Turkey“. Und diese Stimme – was für ein großartiger Musiker John Lennon doch war! Ein Kuriosum schildert der Berliner „Tagesspiegel“ in seiner Rezension: Einmal versucht John Lennon einen Musikjournalisten telefonisch zu erreichen und gerät an dessen Sekretärin. Er bittet um einen Rückruf und buchstabiert seinen Namen: „L-E-N-N-O-N“. „Oh, Sie gehören zu den Beatles?“, fragt die Sekretärin. Lennons Antwort: „Ja, das ist korrekt.“ Er war nach Amerika gekommen, um seine Vergangenheit hinter sich zu lassen. Doch den Beatles ist John Lennon bis zu seinem Tod nicht entkommen…
Es war eine Premiere: Noch nie hatte Lena Ehrlich, Chefin der Agentur „Aventura“ und unsere Begleiterin für knapp zwei Wochen, die Tour „Santo Antao zu Fuß“ mit einer „Wikinger“-Gruppe in Angriff genommen. Und andere Guides, denen sie von der geplanten Route erzählte, meinten, das sei verrückt: Die Teilnehmer würden ihr zusammenbrechen angesichts von Tagesetappen bis zu zehn Stunden. „Ihr werdet an eure Grenzen kommen, physisch und psychisch“, kündigte (drohte?) die 36-jährige, seit elf Jahren in Mindelo auf Sao Vicente lebende Braunschweigerin augenzwinkernd an. Aber die Belohnung würde reichhaltig sein: wunderbare Landschaften auf der nördlichsten, fruchtbarsten Insel der Kapverden, und Begegnungen mit offenen, vom Massentourismus unbehelligten Menschen, unvergessliche Eindrücke einer lebensfrohen Kultur abseits mitteleuropäischer Alltagsroutine. Lena sollte recht behalten. Es wurde anstrengend, die Wanderstrecke – oft vom Meeresniveau 1.500 Höhenmeter rauf bis zum Nachtquartier und umgekehrt – wurde zwar nicht zur „Tortour“, aber allemal Anlass für Muskelkater und schwere Beine. Wer im Urlaub Erholung sucht im Sinn von relaxen und mit hochgelagerten Füßen Caipirinha schlürfen, ist hier fehl am Platz. Aber erholen kann ich mich zuhause auch, sage ich immer; im Urlaub suche ich ungleich lieber die Herausforderung, im Schweiße meines Angesichts fremde Länder und deren BewohnerInnen zu erkunden – zu erwandern, per pedes. Auf Santo Antao geht das bestens.
Guide Lena erläutert die nächste Etappe auf Santo Antao
Aber der Reihe nach… Ich, Journalist aus Wien, war sowas wie der „Quotenösi“ in einer 13-köpfigen Gruppe mit sonst lauter Deutschen. Anfangs will man ja nicht keck sein, aber später meinte ich zur Besetzung: eine österreichische Gruppe mit deutscher Beteiligung ;-). Erste Kontaktaufnahme am winzigen Flughafen von Mindelo nach der Anreise aus Lissabon, dann per Bus ins Hotel namens Che Guevara (der hier fast so hoch im Kurs steht wie Bob Marley oder die „Nationalheilige“ Cesaria Evora), dann ein Begrüßungsdrink am nahen Strand. Ich und einige andere stürzten uns in den 20 Grad warmen und trotz der geschützten Bucht von Mindelo recht bewegten Atlantik – es sollte mein einziges Ozeanbad auf der Reise werden, denn Santo Antao hat felsige Strände mit hohem Seegang. Am zweiten Tag Überfahrt mit der Fähre von Sao Vicente zum Hauptort Porto Novo auf Santo Antao, Trinkwasser kaufen, Bustransfer nach Alto Mira III rauf in die Berge, vorbei am höchsten Berg Tope de Coroa (1979m). Und los ging’s, „nobai!“, wie Lena und unser zweiter, einheimischer Führer Jandir immer wieder zum Aufbruch riefen – an diesem ersten Halbtag und an den folgenden. „Die hochgebirgige Insel vulkanischen Ursprungs ist geprägt von Gebirgslandschaften mit tief eingeschnittenen Erosionstälern … junge Vulkane mit weiten Caldeiras, weitläufige weißglänzende Puzzolan-Hügel (Magma-Gestein, Anm.) und Hunderte von Metern hohe Basaltfelsen bilden dramatische Vulkanlandschaften“, heißt es in wikipedia. „Dramatisch“? Ja! Jedenfalls faszinierend, wunderschön und immer wieder zum Stehenbleiben und Staunen einladend. Die Namen der passierten Orte werden demgegenüber nachrangig, ich vergesse sie ja doch wieder, Ribeira da Cruz, Ribeira das Patas, Figueiras, Cha de Igreja, Espongeiro, Vila das Pombas und wie sie alle hießen. Nur Ponta do Sol werde ich mir merken, wunderbar gelegen am nördlichsten Punkt der Insel, atlantikumtost, mit netten Lokalen und dem besten Essen der Reise im „Caleta“ dem Restaurant einer korsischen Maitresse (?) de Cuisine, die einheimische und europäische Kulinarik virtuos kombiniert. Und was ich ganz sicher nicht vergessen werde, weil es unvergesslich ist: der Abstieg am dritten Tag, 800 Meter die Vulkankraterwand der Bordeira de Norte hinunter auf einem supersteilen Serpentinenpfad, in wohl mühsamster Arbeit gepflastert wie viele Wege auf der Insel. Wir mäanderten uns abwärts, tief unter uns das Ziel, ein Hotel in Ribeira das Patas, Felder mit Papayas, Bananen und Mangos und weiter im Hintergrund der Atlantik im Abenddunst.
Von nun an ging’s bergab – und mit was für einer Aussicht!
Oder: das hastige Hüpfen über Felsen und Steine am Strand, vor der Ankunft in Cha de Igreja, einige hundert Meter flankiert vom wilden Ozean, der einigen von uns die Beine bis hoch zu den Shorts benetzte. Guide Jandir meinte davor, es sei wegen der wilden Brandung nie ganz sicher, ob die Stelle passierbar ist, aber versuchen würden wir’s, denn der Umweg würde uns mehr als zwei Stunden kosten. Und es ging, auch wenn für einen meeresungewohnten Österreicher wie mich die Wucht der Wellen ein echter Thrill war. Jandir, ein Modellathlet und Twen, der demnächst Vater wird, eilte nochmals zurück, um die Nachzügler ebenfalls sicher durch die Gischt zu begleiten. Ein weiteres Highlight war der spektakuläre Küstenweg entlang der Steilküste am Tag darauf: manchmal zehn, dann wieder 50 Meter über dem Wasser; am Ende kurz vor dem Dorf Fontainhas ein sich den Fels hinaufwindender Kreuzweg mit den 14 Leidensstationen Christi (wie passend kurz vor Ostern), den – wie Lena erzählte – manche Einheimische in solidarischer Buße auf Knien bewältigen.
In der Bildmitte der Küstenweg, ganz rechts ein Abschnitt mit den Langsameren unserer Gruppe
Der Schweiß floss bei uns allen in Strömen. Obwohl Anfang April, hatte es tagsüber um die 25 Grad. Sonnencreme ist ein Muss; bei mir schälte sich dennoch die Haut im ausgesetzten Nacken und an der Ohrenoberseite. In den Pausen suchten wir Schattenplätze, tranken das mitgeschleppte Wasser (Lenas stereotype tägliche Ankündigung: „So drei bis vier Liter werdet Ihr schon brauchen!“), aßen das vom jeweiligen Nachtquartiergeber in Tupperware abgefüllte, einfache, aber nahrhafte Mittagessen oder die von unseren Guides ausgeteilten Kekse (die man ohne viel Flüssigkeit nicht runterbringt). Zu schleppen gab’s außer Wasser und Nahrung nicht viel. Unser Hauptgepäck (mit viel zu viel warmem Zeug) wurde fast immer per Bus zum nächsten Nachtquartier gebracht; nur einmal, als wir im engen, straßenlosen Figueiras-Tal in einer Schule übernachteten, mussten wir Schlafsack und Wechselkleidung mitnehmen. Dort verzichteten die meisten übrigens darauf, den Klassenraum als Lager zu nutzen – auch ich legte die mir zuteilte Matratze auf dem betonierten Schulhof auf und schlief bei angenehmen Temperaturen unter freiem, von Straßenbeleuchtung ungetrübten Sternenhimmel. Geweckt wurden wir – wie auch sonst oft – vom Kikeriki der Hähne, das lange vor dem Morgengrauen einsetzt, und vom Kläffen der Hunde. Aber müde Wanderer lernen das wie auch das Geschnarche zu ignorieren. Oder nehmen Ohropax. Wir gingen nicht nur wegen der Anstrengung meist früh zu Bett, auch, weil nach Sonnenuntergang nicht mehr viel los ist, und weil die Zeitdifferenz von drei Stunden zur MEZ frühes Schlafen bzw. Aufstehen nahelegt. Abends gab es in Restaurants am Ankunftsort die beste Mahlzeit des Tages. Viel Fisch (für einen meeresungewohnten Österreicher heißt das viel Grätenklauberei), öfters Hühnchen, als Beilagen Salat, Reis, Kartoffeln, Yams, Maniok, Brotfrucht, Gemüse und „Cachupa“ – der Mais-Bohnen-Eintopf ist das Nationalgericht der Kapverden; dazu das einheimische Strela-Kriola-Bier oder das aus Portugal bekannte Super Bock, seltener Wein (Vinho Verde ebenfalls aus Portugal) oder Fruchtsäfte in Dosen. Das Frühstück fällt dagegen ab: eher fade Brötchen, geschmacksarmer Ziegenfrischkäse, dazu die unvermeidliche Papaya-Marmelade. Manchmal Omelett. Immer Bananen – auch als Zwischendurchmahlzeit bewährt. Zu den milchkaffeebraunen bis schwarzafrikanisch aussehenden Menschen auf Santo Antao: Da hier der Tourismus noch im Entstehen ist, wurden wir als weiße, offensichtlich Fremde in den Dörfern neugierig beäugt, aber immer wieder freundlich gegrüßt. „Bon dia!“ bis Mittag, danach „Boa tarde!“ hören wir oft und sagen es bald selbst. Auch das allgegenwärtige „tud dret!“ – alles bestens“ – hatten wir bald im Ohr. Obwohl die Leute gelassener sind als bei uns zuhause, gibt es viel zu tun: Die Felder sind oft viele (Höhen-)Meter weit vom Haus entfernt, der trockene Boden, dem Vulkanland in pitoresken Terrassen abgerungen, erfordert ausgeklügelte Bewässerungssysteme und viel Arbeitseinsatz. Esel helfen beim Bewältigen schwerer Lasten, ihre Treiber daneben laufen oft mit unzureichendem Schuhwerk, sogar mit Flipflops – und waren durchwegs schneller als wir mit unseren teuren Wanderschuhen.
Und wieder eine dieser unfassbar schönen Landschaften…
Was auffällt: Schon kleine Mädchen und erst recht junge Frauen haben aufwendige Frisuren mit kunstvoll geflochtenen Zöpfchen, machen sich so schick es die Brieftasche erlaubt. Später dann werden sie als verheiratete Frauen schwere Körbe, Bündel und Zuckerrohrstangen auf dem Kopf balancieren – was man bei Männern nie sieht. Ja, es gibt Machismo auf den Kapverden, meinte Lena dazu. Unsere Führerin, einKommunikationstalent sonder gleichen, ist mit Frauen wie Männern rasch vertraut, oft begrüßte sie jemand mit Umarmung und Bussi, gefolgt von einem kleinen Schwatz. Kein Wunder, hat sie doch in Santo Antao einige Zeit gelebt und in der Zuckerrohrverarbeitung auf dem Biobauernhof eines ausgewanderten Niederösterreichers gearbeitet, bevor sie ihre Agentur auf- und ausbaute. Und wenn etwas beim Service nicht passt, macht sie den Inhabern schon mal Beine, geht z.B. in die Küche und fragt, warum das Essen so lange auf sich warten lässt. Die Musik auf den Kapverden darf nicht unerwähnt bleiben, die Menschen dort haben eine sichtliche – nein: hörbare – Freude daran. In so manchem abgeschiedenen Dorf ertönt eine Beschallung, als müsste ein Fußballstadion bespielt werden. Oder ging es nur darum, dass sich die Arbeiter auf den Feldern trotz großer Entfernung zum Wohnhaus im Rhythmus wiegen wollen? Auch in Restaurants ist Tischmusik live gespielt nicht unüblich und angenehm anzuhören (sofern es nicht wie in Mindelo in einen Lautstärkewettstreit zwischen einer Capoeira-Schule und einer Easy-Listening-Combo ausartet). Musikalischer Höhepunkt der Reise war nicht der Besuch im Museum der 2011 verstorbenen großartigen Cesaria Evora, sondern bei Luis Baptista in seiner Werkstatt für Saiteninstrumente und Gitarrenschule in Mindelo. Sein Vater war ein berühmter Musiker, und gemeinsam mit einigen seiner Geschwister und Mitarbeitern bewies Luis, dass auch er ein großer Könner und Kenner sämtlicher Musikstile der Kapverden ist. Das Konzert des sechsköpfigen Ensembles mit Gitarren, Percussion und Gesang ließ unsere inzwischen muskulär aufgerüsteten Beine im Takt mitwippen. Lena kaperte vor dem Abflug von Sao Vicente nach Praia einen CD-Laden am Flughafen und präsentierte uns einige musikalische Must-haves bzw. Must-hears. Ich empfehle Lura, eine gebürtige Portugiesin und derzeit ein großer Star auf den Kapverden, stellvertretend für viele großartige Musiker auf diesen Inseln mit insgesamt nur 530.000 Einwohnern.
Die Kapverden haben nicht nur für die Augen, sondern auch für die Ohren viel zu bieten.
Lena liebt dieses Land, das ist offensichtlich. Darum will sie es auch nach vorne bringen, die Menschen dazu anhalten, ihre touristischen Angebote so qualitätsvoll wie möglich zu gestalten. Oft machte sie sich Notizen, was bei der nächsten Wandertour besser sein sollte. Und vermittelt ihre Anregungen offensichtlich so, dass sich die Adressaten nicht blamiert oder gar brüskiert fühlen. Lenas Tipps verdanke ich einen Liter hochwertige Melasse, die jetzt bei mir im Kühlschrank steht und das morgendliche Müsli aufbessert; weiters ein Fläschchen 77-prozentigen Grogue, der sich bestens mit Fruchtsaft mixen lässt und auf den Inseln zu jeder Gelegenheit gereicht wird. Und Lena legte auch die Schienen zu einer fakultativen Extratour: Canyoning nahe des fruchtbaren Paul-Tales am Tag vor der Rückreise nach Sao Vicente. Dass hier in einer Schlucht außerhalb der Regenzeit (Juni bis Oktober) Wasser fließen könnte, erschien uns nach den bisherigen Erfahrungen unwahrscheinlich. Jedenfalls sollten wir Sportschuhe anziehen, die nass werden durften – und sie wurden richtig nass. Denn nach einem rund einstündigen Aufstieg traten acht von unserer Gruppe, die 75 Euro in das Abenteuer investierten, in einen Bach, der über mehrere Felsstufen – bis zu 18 Meter tief – zu Tal stürzte. Und wir neben, in und tlw. unter dem Wasser am Seil, alle schön der Reihe nach mit Helmen, Neoprenanzug und Karabinern am Gürtel. Es kostet schon Überwindung, sich im fast 90-Grad-Winkel zur Wand abzuseilen, aber es ist ein Thrill, der Spaß macht. Danach – typisch kapverdianisch – erst mal ein gemeinsames Mittagessen mit den beiden Guides und dem dazugestoßenen Rest unserer Gruppe, erst ganz zum Schluss die Bezahlung. Es war ein billiger Urlaub, soll heißen: Vor Ort brauchten wir nicht viel Geld. Es blieben ja auch nur zweimal Essen sowie die zu jedem Mahl konsumierten Getränke außerhalb der inkludierten Leistungen. Ich wechselte im Lauf der beiden Wochen 200 Euro und kam damit durch; sogar für Mitbringsel langte es. Auf der letzten Wanderung auf Santo Antao im grünen Paul-Tal begegneten wir einer alten Frau, die uns ansprach. Lena übersetzte: „Ich wünsche euch eine gute Reise und ein glückliches Leben!“ Mit so einem Reisesegen kann ja gar nichts mehr schiefgehen, merkte ich an. Mit der Rückfahrt auf der windigen Fähre von Porto Novo nach Mindelo endete die eingangs beschriebene Premiere. Die noch verbleibenden drei Tage in Mindelo und in der Hauptstadt Praia wirken nachträglich etwas aufgepfropft. Aber um auch andere Inseln als Santo Antao richtig kennen und lieben zu lernen ist ja ein weiterer Besuch auf diesen charmanten Fleckchen mitten im Ozean möglich… Nobai!
Ein Kontrastprogramm zur bunten Glitzerwelt europäischer Städte mit ihrem Verkehrslärm