Über Robert Mitscha-Eibl

Katholischer, weltoffener Publizist im aktiven Ruhestand; gebürtiger Steirer, durch Theologie- und Germanistikstudium ausgebildeter Lehrer, später Redakteur bei Kathpress, verheiratet mit Claudia, dreifacher Vater, fünffacher Großvater

Elisabeth Strout, Mit Blick aufs Meer, btb 2012

Grumpy old men ist im Amerikanischen eine stehende Wendung für mürrische Männer, die im Alter offenbar leicht in diese Stimmung verfallen. Elisabeth Strout schrieb über eine grumpy old woman und nennt ihren mit dem Pulitzer-Preis 2009 ausgezeichneten Roman nach ihr: Olive Kitteridge (im Dt. ein nichtssagender Titel). Wobei: Kurzgeschichtenzyklus trifft es besser als Roman, denn auf den 350 Taschenbuchseiten finden sich 13 Storys, in denen die pensionierte, einst gefürchtete Mathelehrerin Olive und ihr Mann Henry oft nur am Rande oder gar nicht vorkommen.
Die Geschichten spielen in der fiktiven Küstenstadt Crosby im US-Bundesstaat Maine und wurden teilweise schon Jahre vor der Bündelung als Roman in Zeitschriften veröffentlicht. Strout versteht es meisterhaft, Charaktere und Lebenswenden in wenigen Strichen literarisch glaubhaft und lebendig werden zu lassen. Sie erzählt so „lebensklug“ von Familien, Liebe und Alter, „dass sich dem Rezensenten doch eine ganze Welt erschlossen hat“, heißt es in der FAZ. Ganz und gar begeistert war Eva Menasse in der „Zeit“: Dicht seien gute und böse Formen menschlichen Verhaltens ausgeleuchtet, den Lesenden werde wenig an Abgründen und unglücklichen Einsichten erspart. Das „Wunder“ jedoch bestehe darin, „dass die Lektüre den Leser gleichzeitig mit dem Fatalismus versöhne“.
Im Mittelpunkt steht die stets zu ruppigen Bemerkungen bereite Olive, die auch ihren sie liebenden Ehemann Henry, Ex-Apotheker und eine Seele von einem Menschen, oder den introvertierten Sohn Chris nicht mit ihren sehr dezidierten Meinungen und ihrer Ich-weiß-wie-es-sich-gehört-Mentalität verschont. Ersterer „entzieht sich“ durch einen Schlaganfall, letzterer durch die Hochzeit mit einer von Olive bald gehassten selbstbewussten Ärztin und der Übersiedlung nach Kalifornien ans andere Ende des Kontinents. Olive überrascht immer wieder durch Selbstlosigkeit und Mitgefühl, bekommt aber harte Lektionen auferlegt, um mit wachsender Einsamkeit und Depression zurechtzukommen. Eine Titelheldin, an der man sich bestens reiben kann, die einen nicht kalt lässt.

2014 wurde die vielfach ausgezeichnete US-Miniserie „Olive Kitteridge“ mit Frances
McDermond erstausgestrahlt, die aus den 13 Romangeschichten 4 Episoden destilliert

„Nebelkind – The End Of Silence“ (Tereza Kotyk, Ö/CZE 2024) **** 14.5.25

„Nebelkinder“ sind – das wusste ich bisher nicht – Kinder von Kriegskindern des Zweiten Weltkriegs. Der Begriff beschreibt Personen, die durch während der NS-, Kriegs- und frühen Nachkriegszeit von ihren Eltern erlittene, unverarbeitete psychische Traumata indirekt traumatisiert wurden. Z.B. Vergewaltigung und Vertreibung im Zuge der Ereignisse in Mähren im Jahr 1945 und danach.
Kotyks anfangs trotz meditativer Bilder sperriger Film (worum geht’s da eigentlich?!) zeigt neben der Titelfigur, der Wolfshüterin Hannah, auch deren Mutter Miriam und in Rückblenden auch ihre Großmutter Viktorie und deren Ausgrenzung als deutschsprachige Österreicherin noch vor der „Befreiung“ Tschechiens durch die Rote Armee. Die Gastwirtin Viktorie blieb als einzige in einem südmährischen Dorf, andere deutschsprachige Bewohner flohen oder wurden ermordet. Auf der Suche nach einem aus dem Wildpark Ernstbrunn (NÖ) entlaufenen Wolf gelangt Hannah just in jenes Dorf, wo ihre verbitterte Mutter inzwischen das in den 1990er Jahren in verwahrlostem Zustand restituierte Heimathaus restauriert.
Es wird immer deutlicher, wie sehr die vergangenen Kriegsereignisse Spuren in den Seelen der Generationen danach hinterließen, die von der Freiheit der grenzüberschreitenden Wölfe nur träumen können. Die Gewalterfahrungen ihrer Vorfahren legen sich wie ein Nebel auf das Leben der im Film schemenhaft bleibenden Nachkommen…

Westbalkantour Split – Dubrovnik – Sarajevo – Zagreb, 30.4.-9.5.

Die erste Reise nach der Katastrophe – und die Anreise per Nightjet von Wien nach Split würde nach Claudias Schulter-OP eineinhalb Monate davor vorhersehbar kein Honiglecken werden. Und tatsächlich. Das Gerüttel im unbequemen Liegewagen sorgte für tagelange Schmerzen. Für etwas Entschädigung sorgte der erste Blick aufs Meer, als wir die dalmatinische Küste erreichten. Am gemessen an der Größe von Split lächerlich kleinen Bahnhof entlud ich unseren Renault und wir fuhren zu unserem gut gewählten Hotel (Horizon Luxury Suites) nahe der City mit Blick auf die Adria und die gegenüber liegende Insel Brac. Die freundliche Rezeptionistin machte sich mit dem Hinweis sympathisch, wir sollten doch statt 15,-/Tag auf dem hoteleigenen Parkplatz ein Stück die Straße weiter unten gratis parken.
Split war rundum sympathisch, was nicht nur an dem milden Frühsommerwetter lag. Eine faszinierende Altstadt mit antikem Diokletianpalast und vielen mittelalterlichen Zubauten, die Strandpromenade Riva, der Blick vom Hausberg Marjan auf die Stadt, die vielen guten Restaurants, die Open-Air-Musik auf der Pjaca … all das ist eine Reise wert, zumal von Österreich aus leicht erreichbar. Hervorragend war die Walkative!-Führung einer jungen Historikerin und Anglistin für nur 3 Personen (die Spanisch-Gruppe war erstaunlicherweise viel üppiger), die nicht nur über ihre Heimatstadt viel Wissenswertes zu berichten hatte. Z.B. dass der Christenverfolger Diokletian seinen riesigen Alterssitz in nur zehn Jahren (295-305) erbauen ließ und bis zu seinem Tod 312 (?) bewohnte. Oder. Dass „pomale“ sowas wie ein Leitwort für die Einheimischen ist, wir kennen das ja auch vom österreichischen Dialekt. Es bedeutet so viel wie „nua net hudln“ und ist als Aufschrift auf T-Shirts und Häferl zu kaufen.

Einen der drei vollen Tage in Split verbrachten wir im Weltkulturerbe-Städtchen Trogir – Anreise per Holperbus wiederum sehr anstrengend für Claudia. Die verwinkelten Gässchen mit seinen an der Adria am besten erhaltenen romanisch-gotischen Bauten sind absolut sehenswert.

Gässchen in Trogir

Besonders erwähnen möchte ich in Split noch das Restaurant Fantazija im Westen der Altstadt, wohin mich Claudia als Dank für meine Schulterpflege zu einem hervorragenden Menü einlud. Als Vorspeise die besten Oliven, die ich jemals aß, als Hauptgang wählte ich leichtsinnigerweise Langustinen mit Nudeln und Tomatensoße – und hatte mit den Schalentieren arg zu kämpfen. Der freundliche Kellner bot mitleidig Hilfe an, band mir ein Lätzchen um und meinte, ich solle statt der Zange ruhig auch die Finger benutzen. Das tat ich dann, und doch war das Gericht schon etwas kalt, als ich die Chose beendet hatte.

und weiter ging’s die inselreiche dalmatinische Küste entlang

Am Sonntag gings weiter die Küste südwärts – am bosnischen Meerzugang vorbei – nach Dubrovnik, einem der Overtourism-Spots von Europa. Wir erreichten nachmittags unser Apartment im zentrumsnahen Stadtteil Montovjerne, hügelig, wie der Name schon sagt. Erstes Ziel nach der Durchquerung der berühmten mittelalterlichen Innenstadt war die Stadtseilbahn, die uns für einen stolzen Preis von je 27.- in wenigen Minuten auf den Hausberg brachte. Nach einer halben Stunde Fernblick auf Old Town und die Stadtmauer rundherum sowie die Insel Lokrum hatten wir genug und Hunger. Wir folgten zwei Empfehlungen unserer Gastgeberin Stanka und fuhren mit Uber-Taxi zu einem Restaurant nahe unseres Quartiers.
Am nächsten Tag entspanntes Spazieren durch das „Freiluftmuseum“ mit Touristenströmen auch am Montag. Übrigens kann man nur hier flanieren, überall sonst sind Fußgänger:innen Freiwild, dem kaum Platz zugestanden wird oder für die auch an Zebrastreifen nicht gebremst wird. Vom Radeln will ich gar nicht reden … aber das scheint ein Problem auf dem gesamten Balkan zu sein. Mich hupte ein Busfahrer an, weil ich zwar ordnungsgemäß am Gehsteig ging, aber seiner Ansicht nach zu gefährlich nahe an der Fahrbahn.
Ich war zum zweiten Mal in Dubrovnik – und wohl auch zum letzten Mal. Es ist dort (mit Kreuzfahrttouristen) überfüllt, die Preise dementsprechend hoch (3,80 für eine Kugel Eis; 40,- fürs Besteigen der Stadtmauer) und außerhalb der City gibt’s ohnehin nichts, was wirklich lohnt.

Dubrovnik von oben – nicht ganz so übervoll

Nächstes Ziel: Sarajevo. Zuerst aber, nach unproblematischer Überschreitung der EU-Außengrenze, Zwischenstation bei den Kravica-Wasserfällen, die aufgrund des vorangegangenen Regens auch wirklich imposant waren. Was mein gestreamtes Video beweist. Dann weiter nach Mostar mit der berühmten alten Brücke, die nach Zerstörung im Krieg durch kroatische Streitmächte wieder originalgetreu aufgebaut wurde, hoch über dem bewegten Fluss Neretva, auf dem fleißig gepaddelt wird. Die Stadt in Bosnien und Herzegowina mit den höchsten Temperaturen und dem meisten Niederschlag war die erste mit vielen Moscheen und orientalischem Flair auf unserer Fahrt und eignete sich bestens für einen Zwischenstopp, eine Mahlzeit mit Blick auf die Brücke und einen Rundgang über eine zweite Brücke zurück zum geparkten Auto.


Das Wetter wurde schlechter, und als wir auf der vom Süden kommend endlosen Stadteinfahrt (länger als die Westeinfahrt in Wien?) das Zentrum von Sarajevo erreichten, goss es in Strömen. Kessellage, grau in grau, erster Eindruck: Was tun wir hier?!? Doch der täuschte. Schon der Empfang durch Adi, unseren hilfsbereiten bosnischen Gastgeber mit perfektem Englisch, war aufbauend, das von ihm empfohlene Restaurant Klopa gleich neben der katholischen Kathedrale mit der Statue Johannes Pauls II. davor ausgezeichnet. Beim anschließenden Spaziergang dann gleich Begegnung mit einem welthistorischen Schauplatz: Im Asphalt markiert die Fußstapfen von Gavrilo Princip, der mit den tödlichen Schüssen auf Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Gattin Sophie wenige Meter entfernt ein weltweites Blutbad entfesselte. Drei serbische junge Männer fotografierten einander vor diesem Mahnmal des Terrors, auf mein „Be careful, we are from Austria!“ ergab sich eine kurze Diskussion mit einem, der diesen jugendlichen Attentäter als Helden betrachtete („That was not your country!“).
Wesentlich differenzierter zeichnete am nächsten Tag Guide Ahmed von „GuruWalk“ das historische Bild einer Stadt, die zurecht immer stolz auf seine interreligiöse und interkulturelle Vielfalt war. Er meinte auch, dass Separatisten wie der sich gerade im Clinch mit Neo(s)-Außenministerin Meinl-Reisinger befindliche Rep. Srpska-Führer Milorad Dodik im Land eine kleine Minderheit darstellen. Gerade in Sarajevo herrsche ein anderer Geist.
Und das ist glaubwürdig. Viele Minarette neben orthodoxen und katholischen Kirchen, wenig verschleierte Muslimas, nirgendwo die Spur von Gehässigkeit. Einfach eine freundliche Atmosphäre in der Stadt, die eine leicht überschreitbare Grenze kennt: jene in der Old Town zwischen dem muslimisch-basarhaften (Tipp für Leckermäuler: Baklava Ducan!) und dem altösterreichischen Teil. Von den Österreichern und ihren Investments bis zur jüngeren Gegenwart sprach Guide Ahmed übrigens sehr wertschätzend. Princip war für ihn ein Terrorist, und meiner Einschätzung stimmte er uneingeschränkt zu. „Nationalism ist like a cancer in the brain“.

Ein Abend und ein ganzer Tag waren definitiv zu kurz für Sarajevo; auch der Besuch im Museum der Verbrechen gegen Menschlichkeit und Genozid über die schaurigen 3 Jahre Besatzung und Beschuss durch serbische Truppen nahmen mir nicht die Lust auf einen weiteren Besuch.
Sarajevo ist halt nicht leicht (am besten noch per Flugzeug) erreichbar, wie wir am nächsten, dem längsten Reisetag (Donnerstag) er-fuhren. Es dauerte 8 Stunden, bis wir via Jajce (die diesmal verregnete alte bosnische Hauptstadt mit einem Wasserfall im Zentrum), Banja Luka und Grenzübergang Jasenovac gegen 19 Uhr im Herzen Zagrebs ankamen. Und gleich mit Glockengeläut der Kathedrale begrüßt wurden: Denn aus der Sixtina stieg weißer Rauch auf. Habemus Papam!
Über Zagreb gibt’s nicht viel zu erzählen. Zu kurz war unser Aufenthalt. Ein Abendspaziergang mit einem guten, wenn auch viel zu späten Dinner in der „Fressmeile“ der kroatischen Hauptstadt bleibt in Erinnerung. Und die Freundlichkeit der Rezeptionistin im Hotel, dass sie Claudias vergessene elektrische Zahnbürste sofort express nachschickte. Zagreb – auch das ein Ort, der einen weiteren Besuch lohnte.
Am Freitag ging’s großteils auf der Autobahn via Maribor und Graz flott nach Hause. Bis zum Megastau auf der Tangente…

Hape Kerkeling: Ich bin dann mal weg – Meine Reise auf dem Jakobsweg. Malik 2006 *****

Meine Lust auf den Jakobsweg wird immer größer. Und das liegt auch an Hape Kerkelings Bestseller, das bis heute das meistverkaufte deutsche Sachbuch ist und mehr als hundert Wochen lang auf Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste war.

Hape Kerkelings Strecke von St. Jean weg (wobei er sich ca. 100 km mit Bus und Auto ersparte)

Wobei: Sachbuch trifft es nicht so ganz. Der sympathische Comedy-Star schreibt viel weniger über den Camino Francés als über seine körperlichen Leiden, v.a. aber über Begegnungen auf seiner fast 700 km langen Tour. Mit anderen Pilger:innen wie der Britin Anne und der Neuseeländerin Sheelagh, mit denen Hape am letzten Drittel seiner Reise eine Art „Triumfeminat“ bildet. Gegenüber der anfangs skeptischen Anne brach er das Eis explizit: „Anne, stopp, bleib mal stehen. Ich muss dir sagen. Ich will KEINEN Sex mit dir. Ich bin nämlich schwul.“
Begegnungen aber auch mit Gott. Hape ist irgendwas zwischen Christ und Buddhist, jedenfalls gläubig. Anfangs noch zweifelnd, immer wieder hinterfragend. Später dann mit deklarierten Gotteserfahrungen und anregenden Überlegungen zu Gott und Kirche (Gott ist der „Film“, ein Meisterwerk, das nichts dafür kann, dass der im „Kino“ Kirche nur unzureichend wiedergegeben wird).
Hape schreibt als Comedian flockig, humorvoll und unterhaltsam, mit viel Ehrlichkeit und Selbstironie. Und er spricht neben Deutsch (und das nur selten auf seiner Tour) auch gut Englisch und Spanisch, dazu Italienisch, Niederländisch und ausreichend Französisch. Sowas erleichtert Kontakte natürlich. Ob ich auch spannende Leute kennenlerne und tiefgründig Gespräche führe, wenn ich auf dem von mir bevorzugten Caminho Português unterwegs bin? I’ll find out, on y va!

„Mein Weg – 780 km zu mir“ (Bill Bennett, Aus 2024) ***

Gleich vorweg. Es gibt unter der Vielzahl an Filmen über den Jakobsweg deutlich bessere. Z.B. die Komödie „St. Jacques – pilgern auf französisch“ (2005), „Dein Weg“ mit Martin Sheen (2010) und die im deutschsprachigen Raum bekannte Kerkeling-Adaption „Ich bin dann mal weg“ (2015).
Die australische Variante stammt vom Filmemacher Bill Bennett (dargestellt von Chris Haywood), der nicht mehr der Jüngste ist, ein lädiertes Knie hat, aber keine wirklichen Erfahrungen mit dem Wandern. Und: Er weiß auch nicht so wirklich, warum ihn der Jakobsweg so sehr fasziniert, seitdem er während eines Spanienurlaubs mehrere Pilger:innen gesehen hat. Ungeachtet der Skepsis seiner Frau plant er alles minutiös, trainiert, und fliegt nach Biarritz. Es dauert nicht lange, bis Bill mit ersten gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hat. Und auch der Umgang mit den Menschen, denen er unterwegs begegnet, gestaltet sich zuweilen schwierig. Denn Bill ist ein Sturkopf, der zunächst nicht glauben will, dass er mit Teleskopstöcken besser unterwegs ist als mit einem knorrigen Holzstock.
Bis auf wenige Hauptfiguren sind die Personen im Film wirkliche Pilger (was die Dramaturgie nicht unbedingt verbessert), es gibt einige sehenswerte Landschaftsaufnahmen und tlw. skurrilen Humor (so legt Bill seine Unterhosen auf die Küchenwaage, um sicherzustellen, dass das Reisegepäck nicht schwerer wird als zehn Prozent seines eigenen Gewichts). Der Film unterhält, nachdenklich macht er nicht. Und das vermehrt Tiefgründige gegen Ende der Wanderung wirkt aufgesetzt. So etwa, wenn Cristina Bill unter Tränen offenbart, dass sie sich am Suizid eines geliebten Menschen schuldig fühlt und den Jakobs- als Bußweg betrachtet. Dazu Bill: „Der Beichtstuhl auf diesem Camino sind die Wege, die wir gehen, und die Gespräche, die wir mit Fremden führen. Wir schütten ihnen unser Herz aus und erzählen ihnen unsere schlimmsten Ängste.“ Nunja.

Kirche zu verkaufen: Wenn Gotteshäuser nicht mehr gebraucht werden

(Die Furche, 24.4.25) Diskos, Boulderhallen, oder Buchhandlungen: Europaweit nehmen Umwidmungen von Kirchen zu. In Österreich geht man bei „Profanierungen“ einen behutsameren Weg als anderswo. Aber auch hierzulande gibt es ungewöhnliche Nach- bzw. Doppelnutzungen.

Erwachsene – und auch Kinder –, die gern in die Kirche gehen; denen die Lebensfreude ins Gesicht geschrieben ist; die mit ausgebreiteten Armen immer wieder abheben und Richtung Himmel schweben. Nein, das ist kein Traum eines Pfarrers von einer gelungenen Messfeier, sondern Realität in der Kirche im niederländischen Hilversum. Wo allerdings keine Gottesdienste mehr gefeiert werden, sondern sich Groß und Klein im Trampolinpark vergnügen.

Diese Szenerie in Hilversum dient immer wieder der Veranschaulichung, wenn es um das Thema Kirchenverkäufe bzw. -umwidmungen geht. In vielen Ländern Europas gibt es zu viele Kirchengebäude für immer weniger Gläubige. Die nicht mehr liturgisch genutzten, „profanierten“ Häuser werden u.a. zu Geschäften, Hotels, Kulturveranstaltungssälen, Musikclubs, Kindergärten, Kletterhallen. In den protestantisch geprägten Niederlanden oder auch im anglikanischen Großbritannien hat man bei der Nachnutzung nicht mehr gebrauchter oder leistbarer Objekte weniger Skrupel als im deutschsprachigen katholischen Bereich. Hier gilt die Kirchenrechtsbestimmung (CIC Can. 1222) über den „profanen, aber nicht unwürdigen Gebrauch“ aufgelassener Kirchen… (mehr unter www.furche.at)

Science Busters For Kids, 18.4.25, Stadtsaal Wien ****

Eine gemeinsame Unternehmung mit meinen Geburtstagsenkeln Jakob (11 seit 7.4.) und Nathan (9 seit 6.4.), die uns dreien viel Spaß machte: Molekularbiologe Martin Moder und Sich-blöd-Steller Martin Puntigam in einer unterhaltsamen Doppelconference über Staunenswertes aus der Naturwissenschaft. Es gab einen brennenden Unterarm u.a. Extremhitzeexperimente, Informationen über Methan, das als Darmwind entzündbar ist, eine in flüssigen Stickstoff getauchte Rose, deren Blätter danach in 1000 Stücke zersprangen, einen kräftigen Tritt auf eine Tube Senf, deren Inhalt dann meterweit herausspritzte, einen Vorschlaghammerschlaf auf Moders durch Ziegelsteine und Holzbrett geschützten Rumpf und den Tipp, nicht mit einer geballten Faust zuzuschlagen, in der die Finger den Daumen umschließen (Knochenbruchgefahr!) – mit einem Wort: höchst nützliches, alltagstaugliches Wissen, garniert mit viel Humor. Jakob und Nathan haben viel gelacht, die eineinhalb Stunden vergingen schnell.
Gemeinsam Zeit zu verbringen ist für die zweite Generation nach mir und auch für mich ein besseres Geschenk als Bücher und Lego Technik, finde ich. So will ich es weiter halten…

„Köln 75“ (Ido Fluk, D/Pl/B 2024) *****

Nach dem Kino gleich mal im Internet über Keith Jarrett, sein legendäres Köln Concert, über Organisatorin Vera Brandes recherchieren und auf Spotify die lange nicht mehr gehörten Klaviertöne des Tastenmeisters anhören… nicht das schlechteste Zeugnis für einen Film, oder? Dazu regte der in New York lebende Ido Fluk mit seinem an historische Ereignisse anknüpfendem Spielfilm mit Doku-Einsprengseln an.
Es geht darin um zweierlei Improvisationen: einerseits um Keith Jarretts Solokonzerte mit davor und danach nie gehörter Klaviermusik, geboren im Augenblick der Darbietung im Konzertsaal. Höhepunkt dabei: Das Konzert in Köln vor 50 Jahren, das zur immer noch meistverkauften Jazzsoloplatte führte, die auch ich irgendwann in meiner musikaffinen Studenten-WG in Graz kennenlernte. Und andererseits die unfassbaren Umstände, unter denen die damals 18-jährige (!) Vera Brandes diesen legendären Auftritt ermöglichte. Sie buchte für 10.000 D-Mark, die sie zunächst nicht hatte, die Kölner Oper an einem Jännertag um 23 Uhr für das Konzert eines damals nicht gerade in Topform befindlichen (Rückenprobleme, Schlafmangel, Finanznot) Genies, der am Schauplatz ein schadhaftes Instrument vorfand und meinte: „Darauf spiele ich nicht!“ Wie Brandes mit diesen und anderen Hindernissen fertig wurde, ist ebenfalls Improvisation auf höchstem Niveau.
Der Film atmet auf höchst unterhaltsame Weise den Geist der 70er mit Women’s Lib, Jazz, freier Liebe, Rebellion gegen enge Bürgerlichkeit als Begleitmusik. Und es bringt einen Musiker näher, dessen Hingabe an die Eingebung des Moments zwar durch Huster im Publikum leicht störbar ist, dabei aber Töne wie ein impressionistisches Meisterwerk von Monet hervorbringt und sich die Seele aus dem Leib spielt. Ob er denn nicht manchmal Angst habe, dass der Musenkuss bei einem Auftritt ausbleiben könnte, wird er im Film gefragt. Jarretts Antwort: „Jeden Abend.“

Heinrich Steinfest: Sprung ins Leere. Piper 2024 ***

Als neuer „Roman des großen Lebensphilosophen Heinrich Steinfest“ wurde das Buch angekündigt – und was ist der österreichisch-deutsche Erfolgsautor nicht noch alles: bildender Künstler, Fernost-Kenner, passionierter Läufer, zwanghafter Aufräumer, Film- und Kunstliebhaber. Und diese vielen Qualitäten zu bündeln ist nicht leicht, zumal wenn man – wie Steinfest – einen Hang zu, sagen wir, originellen Formulierungen und Sprachbildern hat. Allerdings lassen mich Sätze wie „Ihre Kondition war wie ein kräftiger, erlösender Regen, der an Gewittertagen die schwüle Stickigkeit aus der Luft presste“ die Augen verdrehen und machen mich bei der spätabendlichen Lektüre schnell müde. Über die Hauptfigur teilt Steinfest mit, es sei nicht so, „dass ihre Augen durch den Wechsel von kaltem Grün und kalten Blau bestachen. Klaras wirkliche Augenfarbe war Braun, helles Braun, ein Braun ohne Umstände“. So was zu lesen hemmt meine Pageturner-Lust und bewirkt, dass ich an dem von meiner Schwester empfohlenen Buch mehr als einen Monat herumlas.
Die Handlung? Klara Ingold, Saalwächterin im Wiener Kunsthistorischen, macht sich mithilfe eines vertraut gewordenen Stammgastes des KHM auf die Suche nach ihrer vor 70 Jahren verschwundenen Großmutter, einer Künstlerin. Die Spur führt nach Wuppertal, Japan und zurück nach Österreich auf den Semmering, wo sie die Gesuchte als erblindete 94-jährige Köchin (!) in einem Altersheim endlich findet. Der Plot ist voll von Unwahrscheinlichkeiten wie der angebotenen Hauptrolle in einem japanischen Arthaus-Film, Geheimdiensten, Sumo-Ringern oder Zeitreisen, zudem von einer kaum zu bändigenden Gelehrsamkeit des Autors, die er sogar in Fußnoten ausbreiten zu müssen meint.
Das ficht Steinfest nicht an, denn – wie er kurz vor dem überraschenden Ende des Romans schreibt: „… der nüchterne Betrachter mag beklagen, dass hier gewisse Handlungen einiger Logik und Vernunft entbehren … Andererseits stammt das Fehlen von Logik und Vernunft geradezu aus der Ursuppe menschlichen Verhaltens“. Mag sein. Aber Steinfests Suppe muss nicht jedem/r schmecken. Mir z.B. nicht so richtig. Immerhin macht das Buch Lust, die beschriebenen Gemälde im KHM anzusehen…

Ö1-Podcast „100 Songs – Geschichte wird gemacht“ ******

Seit ich in Pension bin, höre ich öfter als früher Podcasts. Mit großem Interesse etwa die mittlerweile auf 44 Folgen angewachsene Ö1-Reihe „100 Songs – Geschichte wird gemacht“. Stefan Niederwieser und Co-Host Robert Stadlober beleuchten dabei meist bestens, manchmal auch wenig bekannte Beispiele der populären Musik und stellen sie kulturhistorisch spannend in den Zeitkontext ihrer Entstehung. Heute erfuhr ich über „My Sweet Lord“ von George Harrison Hintergründe, die auch ich als ausgewiesener Beatles-Fan noch nicht wusste – z.B. dass dieser Mantra-Popsong, auf den ich 1970 als Elfjähriger voll abfuhr, bis heute der meistgestreamte aller „Beatles“-Songs nach deren Trennung ist, noch vor Lennons „Imagine“.
Und zwei weitere, knapp 20 Minuten lange Folgen der „100 Songs“ hörte ich mir an: Mit „Surfin‘ USA“ der Beach Boys reiste ich zurück ins unbeschwerte California der Sixties, „Oblivion“ der Techno-Feministin Grimes eröffnete mir die beachtenswerte kanadische Musikszene der Gegenwart. Schon früher staunte ich über das, was die beiden Ö-Einser über so verschiedene Lieder wie „Lili Marlen“, Shakiras „Waka Waka“ oder Moricones „The Good The Bad and The Ugly“ zu berichten wussten. Und immer lassen sie auch internationale Fachleute über die Songs zu Wort kommen.
Es ist ein bisschen wie die Pop-Version des Kult-Podcasts „Geschichten aus der Geschichte“ (GAG) der beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner. Die halten allerdings schon bei Folge 498, und ich finde, es muss durchaus nicht bei 100 Songs bleiben…